VAERST ❚ architekten

 

Architekt  Prof. Dipl.-Ing. HdKB  Michael Vaerst

ZELLE UND KAPSEL

     

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Vortrag "ZELLE UND KAPSEL"

 

von Prof. Dr. Günther Feuerstein

 

Eine Veranstaltung im Rahmen des integrierten Projektes "BOX für das Existenzminimum"

Im Folgenden ist der Vortrag von Prof. Dr. Günther Feuerstein an der BTU-Cottbus anlässlich der Sonderausstellung "Box für das Existenzminimum" widergegeben.

Einige der in diesem Rahmen entstandenen Entwürfe wurden in der Broschüre "BOX für das "Existenzminimum" publiziert und können über diesen Link geöffnet werden.

EI UND UNENDLICHKEIT

 

Welchen Raum, welche Raumdimension benötigt der Mensch? Die Frage ist durch eine Kubikmeterangabe nicht zu beantworten.

Das ist das faszinierende an der menschlichen Existenz: daß sie keinen determinierten Lebensbereich kennt - zum Unterschied vom Tier. Denn selbst die "Freiheit" des Löwen oder des Zugvogels ist keineswegs grenzenlos, sondern wird durch die physischen Bedingungen von Nahrung, Klima, Paarung eingegrenzt. Der Mensch hingegen hat sich, kraft seiner kulturellen und zivilisatorischen Leistungen, den unbegrenzten Raum erobert. Den nahezu unbegrenzten Raum: denn auch unserem Vorstoß in das All sind raum-zeitliche Grenzen gesetzt, die wir wohl kaum jemals überwinden können. Versuchen wir also hier auf der Erde die räumlichen Grenzen abzustecken:

Aufgewachsen sind wir im kleinstmöglichen Raum, in der Geborgenheit der pränatalen Existenz. Allmählich haben wir uns die Dimensionen des irdischen Raumes erobert bis zur sogenannten Unendlichkeit des Meeres und der Wüste. Zwischen diesen Dimensionen pendelt sich unser Leben ein und es ist wichtig und ein uraltes Thema der Architektur, daß wir das großartige Spannungsfeld zwischen Enge und Weite voll ausschöpfen.

Der provokante Denker Peter Sloterdijk hat in seiner Untersuchung, die er "Blasen" nennt (1998), auf die Bedeutung des In-Seins hingewiesen: in der Mutter, in Gott, im Raum sein. Die Architektur kann freilich nur für einen bestimmten Bereich des In-Seins zuständig sein. Aber immerhin hat sie die Aufgabe, aus der Unendlichkeit des Raumes ein jeweils adäquates Stück herauszuschneiden und dem Menschen zu übergeben. Das Überraschende ist nun, daß in der Architektur der letzten Jahrzehnte dieser Ausschnitt von Welt bisweilen eine ungewöhnliche Form annimmt: die des Eies oder dessen pragmatischen Äquivalentes, der Ellipse und des Ellipsoides. Eine der Varianten von Friedrich Kieslers "Endless House" (1950) ist eindeutig von der Eiform inspiriert. Hans Hollein definiert eine der "Visions for Europe" (1994) als ein Ei, das dem Wasser zu dekliniert. Ähnlich wie der Uterus ist das Ei der elementarste biologische Kleinstraum der in Architektur umgesetzt werden kann.

 

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ALLEIN

 

Wir sprechen also in diesem Beitrag von den ganz kleinen Räumen mit und in denen wir leben, von den Zellen und den Kapseln.

Die Zelle ist jener Raum, in dem wir allein sind, abgeschlossen, geschützt, bar jeder Kommunikation, wir sind freiwillig oder biologisch bedingt oder gezwungen in solchen Räumen.

In welchen Situationen sind wir motiviert, uns in diese individuelle Isolation zu begeben?

Das ist zunächst der Schlaf, in dem wir absolut allein sind, freilich begleitet von den Träumen, die aus der Fülle des Tages und aus der Tiefe des Unbewußten uns begleiten. Hans Dieter Schaal stellt sich vor, wie unser Bett abgesichert sein könnte oder wie wir unsere Schlafstelle individuell gestalten könnten.

"Sterben - schlafen - Nicht weiter! - und zu wissen, daß ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet .... Sterben - schlafen - schlafen! Vielleicht auch träumen!" So werden in Hamlets großem Monolog dem Sterben das Schlafen und das Träumen an die Seite gestellt.

Dem Schlaf verwandt ist der Tod. Niemand begleitet uns in den Tod. Einsam stehen die Totenhäuser auf einem Friedhof in Birdjand im Iran. Wenn auch die Ehepaare gemeinsam bestattet werden oder die Friedhöfe kollektiven Charakter bekommen wie etwa beim Friedhof von San Michele in Venedig bleiben wir doch allein. Für den gläubigen Menschen kann aber der Tod auch nur die Schwelle zu einem neuen Leben sein, für den Christen das Eingehen in die Gemeinschaft der Heiligen.

Allein sind wir auch im Eros, denn die Kopulation ist nach Platon die Wiederherstellung der Einheit des Menschen, der einstmals in zwei Teile zerschnitten wurde. Der Gruppensex ist ein Verrat an der "hierós gamós", an der heiligen Hochzeit, die die Menschen den Göttern nachvollziehen sollen.

Allein sind wir beim Vorgang des Stoffwechsels - die Männer freilich mit Vorbehalt und in manchen Ländern - etwa in Nepal - ist der Ausscheidungsvorgang ein kollektives Ereignis.

Bett, Grab und Abtritt sind also unweigerlich jene Zellen, mit denen jeder von uns konfrontiert ist. (Und kein Zweifel: es sind auch eminent architektonische Aufgaben.)

 

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INDIVIDUALRAUM

 

Sprechen wir von unserem alltäglichen Ambiente: der Individualraum muß zwei Kriterien gehorchen: der Selbstgestaltung und dem freiwilligen Kommunkationsabbruch - und wir wissen, daß diese Bedingungen heute oft nicht erfüllt werden. Werfen wir also einen Blick auf die extremen Selbstgestaltungen des persönlichen Ambientes der Künstler. In der Nähe von Chartres bedeckt Raymond Isidore mit einer geradezu pathologischen Besessenheit sein Haus mit Millionen von Mosaik-Elementen. Eine andere Besessenheit zeigt Johann Jascha, ein oberösterreichischer Künstler. Er eliminiert alle Kasten und entsorgt jahrelang seine Wohnung nicht, sondern arrangiert Alltag und Abfall zu einem beklemmenden Ambiente - eine schöne Demonstration zum Umgang mit der Warenwelt und deren Auswurf. (1969-75)

Noch einmal zu Friedrich Kiesler. Er schafft sich Zellen besonderer Art: Er baut den Bucephalus (1964) nach und begibt sich in sein Inneres, und das Innere in einer anderen Version des (1959) "Endless House" ist eine bergende Hülle.

Kieslers Meditationsgrotte für New Harmony, Indiana (1963) läßt keinen Zweifel offen, wenn wir mit dem Beckenschnitt einer Frau vergleichen: die Sehnsucht nach der primären bergenden Höhle ist ein Urmotiv der Architektur.

Leonardo da Vinci hat einen kleinen verspiegelten, achteckigen Raum gezeichnet - und Hans Hollein hat ihn tatsächlich realisiert: es ist die winzige Zelle des Retti-Ladens am Wiener Kohlmarkt. (1965-67)

Von den Künstlern wieder zurück zur Realität, zur Zelle die fast oder ganz unfreiwillig benützt wird.

 

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ZELLEN

 

Das ist einmal die Klosterzelle, streng, asketisch. Eine letzte Reduktionen bei der Zelle von Girolamo Savonarola (1452-98) im späten 15.Jh. im Kloster San Marco. Hingegen nicht ohne Komfort die Zellen der Kartäuser, die zu passablen Häuschen werden. Hans Dieter Schaal interpretiert die Zelle von Blaise Pascal (1623-62) im Kloster Port Royal, in die sich der Denker freiwillig zurückzog.

Die Gefängniszelle hingegen erleben wir nicht freiwillig. Die Zelle in einer Jugendstrafanstalt (Gerasdorf, NÖ, 1975) definiert nicht die Grenzen der Menschenwürde.

Zurück zur banalsten Alltagszelle und zu deren Wandlung: das Telefon war charakterisiert durch seine absolute Abgeschlossenheit, in der nur ein Mensch, der Gesprächspartner uns hören konnte. Aber allmählich öffnen sich die Zellen, wir stehen im Freien und können gehört werden. Die letzte Konsequenz aber ist das Mobiltelefon, das Handy. Und ich nehme die nächsten Kapitel vorweg: die Zelle wird zur unsichtbaren Kapsel durch ihre unerhörte Mobilität, es bildet sich gleichsam eine Aura, eine "Blase" (Sloterdijk) um den Sprechenden, der nun "perambulatorisch" (Paracelsus) kommuniziert und das gesamte soziale Umfeld wird zu den unfreiwilligen Zeugen der belanglosen Intimitäten.

 

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HAUS IM HAUS

 

Zurück wieder zur Zelle. Sie allein hat oft keine autonome Existenzmöglichkeit und wird überbaut oder einem zu großen Raumvolumen muß einer Zelle implantiert werden. In beiden Fällen entsteht das "Haus im Haus" das nun über die individuelle Einzelnutzung hinausgeht.

Die katholischen Kirchen liefern uns schöne Beispiele. Die Portiuncula, die Ursprungskapelle des Hl.Franziskus bei Assisi wurde mit einer gewaltigen Barockkirche überbaut. Und wir können auch jeden Beichtstuhl als ein Haus im Haus ansehen.

Berninis Tabernakel im Petersdom in Rom (1624-33) oder der Gnadenaltar in der Kirche in Einsiedeln sind üppige Beispiele für die geplante Implantation einer erlebbaren Aedicula in einem allzu pathetischen Raum.Und auch der Hl. Hieronymus des Antonella da Messina (1470) fühlt sich nicht wohl im feierlichen Gewölberaum und setzt sich in einen Arbeitskasten. Ähnlich geht es den fürstlichen Schloßbewohnern und sie bauen das warme, gemütliche Himmelbett in die prunkvollen Räume.

Die moderne Architektur kennt selbstverständlich diese Praxis: Oswald Matthias Ungers (geb.1926) hat selbst das Thema "Raum im Raum" für sich reklamiert. Im Architekturmuseum in Frankfurt (1979-84)demonstriert er diesen Vorgang durchaus konsequent: Das Patrizierhaus wird total entkernt und ein völlig autonomes Haus wird hineingestellt. Ein zweites Mal wird also aus dem Raum wieder Raum herausgeschnitten, ein Raum, der für uns erfassbarer, erlebbarer, schützender, brauchbarer ist. Die Implantationen sind für uns zu einer gängigen Praxis geworden. Levitt Bernstein setzt 1976 ein Theater in eine klassizistische Halle in Manchester.

Bei aller Begeisterung für die heutige Architektur der Transparenz, der Fragilität, des technischen Pathos, der Großartigkeit können wir auf dieses "In" oder "Innen"-Sein nicht verzichten. Um nochmals Sloterdijk zu zitieren: "Wo also sind wir, wenn wir in einem kleinen Innen sind? In welcher Weise kann eine Welt, ihrer Öffnung aufs Unermessliche hin ungeachtet, eine intim geteilte Rundwelt sein? ... Wir sind in einer Mikrosphäre immer dann ... wenn wir im Innenraum der absoluten Mutter ... im Resonanzraum der willkommen heissenden Mutterstimme ... sind."

 

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PRINZIP KAPSEL

 

Die Fragen der Dimension erfahren eine neuen Aspekt wenn das Ambiente beweglich wird. Wir haben Architektur durch die Jahrtausende hindurch als die statische Kunst schlechthin definiert. Heute ist es nicht mehr möglich, die Frage des Zeitbezuges und somit das Problem der Bewegung aus einem, freilich expandierten , Architekturbegriff auszuschließen.

Die Zelle bewegt sich also und wir könnten sie dann als Kapsel bezeichnen.

 

Die Urkapsel wurde schon zitiert: es ist der mütterliche Schoss und die Kriterien der Kapsel können wir daran festmachen:

 

Die Kapsel ist

a.) ein sehr kleiner Raum

b.) beweglich

c.) auf Kommunikation angewiesen und

d.) weitgehend autonom.

 

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WESEN IM WESEN

 

Schließen wir an das Phänomen "Raum im Raum", dann ist es der Typus "Wesen im Wesen", also das Embryo im Mutterleib, wie wir es bei Maria und Elisabeth an einer Kirchentür in Irrsdorf, Oberösterreich sehen. Es ist aber auch die Dreifaltigkeit mit den Heiligen in der "Vièrge ouvrante", der öffenbaren Jungfrau des 15.Jhd. oder die russische Puppe in der Puppe. Niki de St.Phalle verschafft uns bei "Hon- En Katedral" ("Sie - eine Kathedrale" 1966) das Vergnügen, wieder in die Frau einzutreten.

 

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ZELT

 

Sprechen wir zuerst von den Vorläufern des Prinzips Kapsel, von einer mobilen Architektur, die schon Jahrtausende alt ist.

Das ist zunächst das Zelt des Nomaden: er führt nicht nur seine Behausung mit sich, sondern alles was er für das Leben braucht und er macht sich - für eine zeitlang - unabhängig von den Versorgungsstützpunkten. Das gilt vor allem für den nomadisierenden Hirten, ein Beispiel aus Bishapur im Iran. Das Prinzip Zelt zeigt uns kulturhistorisch eine weite Palette. Im osmanischen Kulturkreis kann es zur Wohnstätte oder zur Residenz werden, wie etwa bei Sultan Süleymann (1568), ebenso bei Feldzügen, Kriegen, Eroberungen, Pilgerfahrten. Piero della Francesca etwa läßt Constantin in einem Zelt träumen.

In unserer zeitgenössischen Architektur hat das Zelt, nicht zuletzt durch Frei Ottos Pionierarbeit, einen fixen Platz eingenommen, aber es hat seine Mobilität längst verloren: der Deutsche Pavillon in Montreal 1967 (Rolf Gutbrod, Frei Otto) ist ebensowenig beweglich wie die Zelte für die Münchner Olympiade von Günther Behnisch und Frei Otto. (1967-72)

Das nach wie vor mobile Zelt finden wir in unserem Jahrhundert auf einigen Gebieten: In Forschung und Expedition - etwa beim Lager Roald Amundsens am Südpol 1911 - oder bei Katastrophen: Bei Erdbeben, Kriegen, Wasser- und Feuerkatastrophen stellen Unterkunfts- und Sanitätszelte noch immer die erste Hilfe dar.

Somit sind wir beim sozialen und gesellschaftlichen Problem der Kapsel angelangt - wodurch kann das Zelt ersetzt werden? Notunterkünfte für Katastrophengebiete, für Entwicklungsländer wurden zu hunderten entworfen - ein Container von N. Hildebrand aus dem Jahr 1967 etwa, wieviele haben sich bewährt? Und kann für die heutigen Stadtnomaden, für den Obdachlosen, den Sandler die Kapsel eine Bleibe darstellen? Ein polnischer Architekt hat eine Idee, die er auf der Architekturbiennale in Venedig zeigt: der kleine fahrbare Container ist gleichzeitig die Schlafbox.

Nun wäre es zweifellos äußerst spannend, eine "Gutmenschen-", eine "Caritas-Gesellschaft" gegen eine "Rosinen-", "Internet-" und "Fun-Gesellschaft" auszuspielen - sie alle hätten etwas mit der Kapsel zu tun. Aber dieses Thema würde viele Abende füllen.

Drehen wir uns um 180° und springen wir also unmittelbar in die "Fun-Gesellschaft".

Eine großartige Mobilität muß die Entertainment-Industrie aufweisen. Was die "Archigram" in den 60er Jahren in ihren "Instant Cities" aufgezeichnet haben, ist längst Wirklichkeit. Mark Fisher baut 1989 für die Rolling-Stones eine Augenblicks-Stadt mit kollosalem technischen Equipment.

 

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NOMADEN

 

Das traditionelle Nomadentum lebt heute fort im fahrenden Volk: Zirkusleute, Schausteller, Fieranten, Weltenbummler haben sich aus dem Mittelalter herübergerettet. Ein Zeichner schildert 1879 die Atmosphäre "Im Zigeunerwagen".

Ein nicht immer freiwilliges Nomadentum schafft die neue Gesellschaft in den USA: die Trailer sind mit ihren oft komfortablen Wohnwagen unterwegs und gruppieren sich in den Camps zu Mustern, die einer Siedlungsstruktur ähneln.

Ein tragisches und absolut unfreiwilliges Nomadentum indes will nicht abreissen: es sind die Millionen Flüchtlinge, die nach wie vor ruhelos durch die Welt ziehen.

Im Gegensatz zu diesem katastrophalen Nomadentum stehen die freiwilligen und - zumeist - lustbetonten neuen Nomaden: die Touristen.

Der Wohnwagen oder Wohnwagenanhänger ist längst ein gewohntes Bild auf den Ferienstraßen und immer wieder wird der Versuch unternommen, das Haus zu imitieren - auch in der Größe und im Komfort.

Die Rotels sind gleichsam akkumulierte Kapseln, komprimiert zum fahrenden Kollektiv-Haus.

Aber die Mobilität kann sich auch ad absurdum führen: Campingwagen und Campingzelt erobern idyllische Seeufer und Waldrandwiesen, das Campingwesen, aus dem wandernden Zeltler mit grenzenloser Freiheit hervorgegangen, degeneriert zu modernen Wohlstands-Elendsquartieren mit einem letzten Tiefpunkt an Lebenskultur.

 

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AUTO

 

Damit sind wir längst zu unserer Lieblingskapsel gekommen, mit der wir alle vertraut sind, zum Auto-Mobil. Alle Kriterien der Kapsel treffen auf unsere Fahrzeuge zu, vor allem wenn wir auf Fernfahrten sind: wir versorgen uns mit Treibstoff und Proviant, wir sind weitgehend autonom auf Pannen eingestellt und wir bedürfen der Kommunikation durch ein reichhaltiges semantisches System, schon lange durch Autoradio und seit kurzem auch durch Autotelefon oder Handy ergänzt. Längst wissen wir, daß die Kapsel Auto mehr ist als ein Fortbewegungsmittel. Der Stardesigner Raymond Loewy verschafft dem Lancia eine pathetische Prestige-Fassade und Luigi Colani verwandelt einen Sportwagen in eine Skulptur.

Daß unser Auto auch ein sehr individuelles Ambiente ist, scheint offenkundig: kaum ein Fahrzeug, das nicht mit irgendwelchen persönlichen Akzessoirs ausgestattet ist - bis zur Umwandlung in Skulpturen und Häuser. Ein reiches Repertoire an "Rolling Homes" hat sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren in den USA entfaltet. Es war nicht nur die Wohnproblematik, sondern auch die Suche nach neuen, eben mobilen Wohnformen, die junge Menschen dazu motivierte, alte Fahrzeuge in Häuser zu verwandeln. Die Kirchen haben sich bisweilen angeschlossen.

 

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BAHN, FLUG

 

Auch die öffentlichen Fahrzeuge ganz allgemein sind Kapseln: freilich nicht mehr nur für den einzelnen, sondern für ein Kollektiv, das nur selten zu einer Gemeinschaft generiert: in der Eisenbahn, am Schiff, im Flugzeug. Der "Great Northern - Express" - etwa sein Speisewagen - kann uns überzeugen, daß es sich um fahrende Architekturen handelt und Luigi Colani träumt von den neuen Lokomotiven.

Die Begeisterung Le Corbusiers (1887-1965) von den Ozeandampfern als schwimmenden Städten hat in seinen Entwürfen Niederschlag gefunden.

Die autonome Existenz in den Lüften, im Flugzeug ist für uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Über das Passagierflugzeug hinaus demonstriert das fliegende Krankenhaus die neue Universalität der "Aeroplane". Die extreme Formulierung der Kapsel kommt aber von einer anderen Seite.

 

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PIONIERE - EXTREME

 

Schauen wir kurz zurück ins späte 18.Jahrhundert. Die Brüder Montgolfier starten als Spektakel für Adel und Volk ihre Heißluftballons - und bald sind diese auch bemannt. Francisco Goya (1746-1828) läßt einen bemannten Ballon 1813 über eine düster expressive Landschaft schweben. Odilon Redon (1840-1916) versteht diese Revolution des Sehens, wenn er in einer Lithographie den Ballon in ein Auge verwandelt, das sich "zur Unendlichkeit bewegt". Das Abheben des Menschen vom Boden hat eine visuelle Revolution bedeutet. Nicht nur von einem hohen Berge, sondern gelöst von der Erde erlebt der Mensch eine völlig neue Perspektive und begründet einen weiteren Schritt aus der Enge der Renaissanceperspektive. Das Interesse des Forschers an unwirtlichen Lebensbereichen setzt in den Dreissigerjahren sehr intensiv ein. Die Brüder Piccard, Auguste (1884-1962) und Jean (1884-1963), die Sensationen unserer Kindheit, geraten allmählich in Vergessenheit: in ihrer Kapsel, an einem Ballon aufgehängt, erreichten sie mit 17.000m die Stratosphäre und tauchten mit einer anderen Kapsel auf 10.000m Meerestiefe. Damit haben sie sich auch als Pioniere der Tiefseeforschung qualifiziert, die nach dem 2.Weltkrieg verstärkt einsetzt - nicht zuletzt bei den U-Booten des Weltkrieges anknüpfend. Und wieder interessiert, verstärkt ab 1960, die Frage nach den extremen Existenzbedingungen für den Menschen.

Das "Aluminaut" verweilt 1965 mit 6 Mann 72 Stunden in der Meerestiefe, das "Sealab 2" verbringt mit 28 Mann 30 Tage unter Wasser. Bemannte Tauchkammern werden für die Bergungen und Erzschürfungen eingesetzt, während ein schweizerisches U-Boot Vergnügungsfahrten am Grunde des Genfer-Sees unternimmt.

 

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WELTALL

 

Die vollendete Kapsel ist selbstverständlich die Raumkapsel im Weltall. Sie erfüllt in einer fast perfekten Weise die drei Bedingungen: In der Zeit des Aufenthaltes im All ist sie von jeder Versorgung völlig abgekoppelt. Sie hat die höchste Mobilität, die von der Menschheit bisher erreicht wurde, aber sie bedarf der Kommunikation, etwa mit der Bodenstation.

Der Sowjetastronaut Juri A.Gagarin vollführte am 12.April 1961 den ersten bemannten Raumflug. Walter Schirra schwebt am 6.Jänner.1966 mit der Gemini durch das All. Mit der Saturn 5 wird die Apollo 11 ins All geschossen und diese setzt die Mondfähre auf unserem romantischen Planeten ab: Neil Armstrong betritt am 20.Juli 1969 als erster Mensch den Mond. Wir saßen mit klopfenden Herzen und freudentränenden Augen vor den - noch schwarz-weißen - Bildschirmen: wir waren davon überzeugt, daß wir nun in ein völlig neues Zeitalter der Menschheit eintreten werden und wir waren grenzenlos glücklich, daß wir das erleben durften.

Für lange Raumflüge wurden ökologische geschlossene System erdacht - und für Raumlabors - Amerika und Rußland entwickelten hunderte von Beispielen - kennt die Phantasie keine Grenzen.

Wie könnten wir für längere Zeit am Monde leben? Stützpunkte werden entworfen und Frei Otto (geb.1925) phantasiert die neue Mondstadt. Konkreter wird der Designer der Geschwindigkeit, Raymond Loewy: im Auftrag der NASA entwickelt er die Kommandostände für Raumschiffe.

In den späten Siebzigerjahren scheint das Interesse zu erlahmen aber die Forschungen laufen weiter. In den Achtzigerjahren wird die Space-Shuttle entwickelt und das Raumlabor Pollux zählten zu den Schwerpunkten der amerikanischen Programme. Und in den 90er Jahren scheint es ganz still geworden zu sein. Aber täuschen wir uns nicht: jedenfalls in Amerika laufen gigantische Projekte zur Besiedelung des Alls und die Nah-Besichtigung des Mars ist für 2013 fix programmiert.

Nun interessiert uns noch ein Ambiente, kleiner als die Kapsel: Der Raumanzug ist gleichsam das Zwischenglied zwischen der Bekleidung und der Kapsel: noch weitgehend der Körperform angepaßt, ähnlich dem Uterus beim Fötus, sorgt er in einem viel höherem Ausmaß für die Konditionierung der Körperwärme, stellt somit die Minimalformulierung der physischen Architekturkomponente dar. Gleichzeitig ist der Raumanzug der großartige Beweis für die ungeheuerliche Expansion des menschlichen Lebensraumes. Von nun an gibt es kaum einen Bereich in dem der Mensch nicht existieren kann - vielleicht nur im Inneren der Erde, also in jener "Welt" die seit urdenklichen Zeiten als "Hölle" charakterisiert wurde.

Und so hat dieses Ereignis der Raumfahrt in unseren architektonischen Konzeptionen auch tiefe Spuren hinterlassen. Nicht zuletzt war der Beweis erbracht, daß nicht nur die Welt, sondern sogar der Kosmos machbar, eroberbar, besiedelbar sind.

 

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EXPERIMENTAL ARCHITEKTUR: ARCHIGRAM

 

Nun ist es keine Frage, daß für uns Architekten in den Sechzigerjahren die Raumfahrt nicht nur Faszination sondern auch Inspiration bedeutete. Es kann kein Zufall sein, daß in dem Jahre 1961, da Gagarin in 1 Stunde und 48 Minuten die erste Erdumrundung schaffte auch die erste Nummer der Zeitschrift "Archigram" in London erschien. Die gleichnamige Architektengruppe konstituierte sich aus Warren Chalk, Peter Cook, Dennis Crompton, David Greene, Ron Herron und Michael Webb. Die Ausstellung "Living Citiy", 1963 machte sie bekannt und es ist übrigens das gleiche Jahr, in dem Hans Hollein und Walter Pichler ihre Ausstellung "Architektur" präsentierten, drei Jahre später gefolgt von meiner Ausstellung "Urban fiction", es wird davon noch zu sprechen sein.

Im lediglich zeichnerischen Werk der "Archigram" nimmt das Thema der Kapsel eine wichtige Stelle ein. Die konsequenteste Formulierung ist wohl der "Living pod" von David Greene, eine pneumatische Konstruktion, eine Überlebenskapsel, die eine vollständige Konditionierung unserer physischen Existenz gewährleisten soll.

Im Gegensatz zu dieser Einzelkapsel sind die plug-in und die clip-on-Systeme Akkumulationen von einzelnen Kapseln zu völlig flexiblen städtischen Gebilden. Diese Systeme basierten auf der Idee der leicht transportablen Kunststoffkapseln, die einfach angesteckt oder eingeschoben werden können. Die letzte Konsequenz ist die "Walking City", die totale Mobilität einer riesigen Stadt - gleichsam die Hyper- oder Mega-Kapsel.

 

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KUNSTSTOFFE

 

Die konkreten Realisierungen freilich ließen auf sich warten. Bescheidene Versuche bei den Japanern sind wohl von Archigram inspiriert, so etwa Kisho Kurokawas Wohnturm in Tokio, aber die Idee der totalen Flexibilität blieb auf der Strecke.

In Deutschland ist Wolfgang Döring von der Machbarkeit des Kapselhauses überzeugt. Dieser Optimismus wurde bei uns allen durch eine vielversprechende Technologie genährt: die neuen Kunststoffe, vor allem die GFK, die Glasfaser-verstärkten Kunststoffe versprachen eine unerhörte Zukunft: billig und leicht und flexibel, so hofften wir, könnten die Bauwerke werden.

Tatsächlich schienen die Hoffnungen berechtigt: Jean Maneval schloß 1968 mit seinen "Six Shell Bubbles" an das amerikanische Monsanto-Haus der 30er Jahre an. Coulon-Schein bauten den Prototyp für eine mobile Hotelkabine. Dutzende weitere Prototypen für Pavillons, für Dritte-Welt-Bedürfnisse, für Notunterkünfte, für Sanitäreinheiten, aber auch für Wohnhäuser folgten. So gut wie nichts wurde in Serie realisiert: Bauphysik und Brandschutz haben unsere Ideen gekillt - vielleicht nicht endgültig, wenn eines Tages neue Technologien auftauchen.

Trotzdem gingen die Versuche weiter. So etwa hat Luigi Colani das Plastik-Image in die Siebziger-, Achtzigerjahre transferiert, mit Entwürfen, die uns vielleicht mehr ängstigen als erfreuen: eine Rundküche und einen Sekretärinnen-Sessel, die vollmechanischen Kapseln. Noch 1988 entwickelt Colani die Halbzellen für die Noris Bank in Stuttgart. Und damit erinnert er uns an eine neue Einsamkeit: auch mit unserem Geld und mit unseren Kontoauszügen wollen wir allein sein.

Auch das zerlegbare und transportable Haus aus Metall hatte keine Chancen. Richard Buckminster-Fuller (1895-1983) schuf schon 1927-31 den klug durchdachten Prototyp des "Dymaxion Home" - aber er fand absolut keinen Anklang.

 

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WIENER VISIONÄRE

 

Lassen Sie mich nun auf die Situation in Wien eingehen und abermals zurückblenden. 1961 wurde ich von Karl Schwanzer (1918-75) als 1.Assistent an das Institut für Gebäudelehre an der TU Wien berufen. Das war das Signal für den großen Aufbruch mit den Studenten. Weltweite Informationen, Diskussionen im "Klubseminar der Architekturstudenten", Experimente auf der Versuchsbaustelle, Auseinandersetzungen in Ausstellungen und Seminaren: so wurde der Boden bereitet für eine neue Sicht der Architektur. Im Gegensatz zu "Archigram" waren für uns aber nicht nur die Zeichnung, die Idee, die Polemik die Medien, sondern die Realisierung, der Prototyp, die Aktion.

Zunächst haben sich 1967 die "Haus-Rucker-Co" mit Laurids Ortner, Zamp-Kelp und Klaus Pinter konstituiert. Huldigung und Faszination der Monderoberung 1969 werden mit einem gigantischen "Mondessen" auf einem großen Platz in Wien und mit fliegenden Helium-Herzen zelebriert - eine absolut wienerische Variante der Huldigung an die Astronauten. Und so formulierten es die Hausrucker: "Das Bild einer 'besseren' Welt schien zum Greifen nahe: gemeinsam aufbrechen zu neuen, unbekannten Möglichkeiten"... "Die Situation des Astronauten, der mit Hilfe der Technik neuen Raum erleben konnte, betrachteten wir als Modellfall einer 'bewußtseinserweiternden' Architektur. Der Traum, durch architektonische Vorrichtungen eine erlebbare Steuerung des Bewußtseins vorzunehmen, schien durch die vorgeführten Erfahrungen der Weltraumfahrt und der halluzinogenen Drogen in machbare Bereiche gerückt."

Die Aktivitäten der Hausrucker setzten aber schon zwei Jahre vor der Mondfahrt ein. Schon 1967 wird der "Ballon für Zwei" gebastelt und vom Fenster eines Wiener Zinshauses ausgefahren. Die Erweiterung der Ein-Mann-Kapsel auf die erotische Partnerschaft ist auch das Thema des "Mind-Expanders": Mit überschlagenen Beinen (in der Renaissance die Metapher für die Paarung) sitzt man unter einer großen Haube, die optische und akustische Informationen vermittelt.

Das "Gelbe Herz" wird 1968 gebaut und aufgeblasen, es gleicht einer riesigen Glühbirne und eine Liege im Inneren gibt Entspannung, Entrückung und Information. Aus dem gelben Herz aussteigend, setzt man sich den "Fliegenkopf" auf: eine weitere Reduktion der Kapselsituation die sich nun auf den Träger der Hauptsinne, den Kopf beschränkt. Die urbanistische Expansion des gelben Herzens soll sich zu einem "Pneumacosm" in einer Erweiterung von Manhatten niederschlagen.(1968) Ihre Ballons, die pneumatischen Konstruktionen, haben die Hausrucker für die "documenta 5" in Kassel 1972 weiter entwickelt. Die große Blase ist nun zur "Oase" geworden und ein neuer Gedanke steht zur Diskussion: wird es eines Tages notwendig sein, Natur, gleichsam als Konserve, in einer pneumatischen Kapsel aufzubewahren?

Walter Pichler hat ein noch konsequenteres Modell für die Kopfkapsel geliefert: Sein "tragbares Wohnzimmer" (1967) enthält die für uns heute scheinbar wichtigste Informationsquelle: einen Fernsehapparat. Pichler hat damit eine unerhörte Erfindung dreißig Jahre vorweggenommen: den "Helmet" für die Virtual Reality, wovon noch zu sprechen sein wird.

Pichlers "Intensiv-Box" (1967) diskutiert einmal mehr die Frage der physischen Minimalexistenz und der Information.

Das Motiv des Schreines - gleichsam einer sakralen Kapsel - ist in den Siebziger- und Achtzigerjahren ein zentrales Motiv für Pichler und er versteht es, die noch immer virulente Kraft des Katholischen neu zu interpretieren. Eine zwei Mann-Prozession (1970) trägt einen Schrein durch die Stadt. Der Archetyp des Schreines, im katholischen Tabernakel bis heute present, wird von Pichler künstlerisch interpretiert: das "Grosse Kreuz" (1976) ist ein weihevoller Behälter, der ein kleines Kruzifix in sich aufnimmt.

Sein Weggefährte für einige Jahre, Hans Hollein, demonstriert das kleinste Architekturbüro (1969): eine pneumatische Konstruktion mit Telefon und Zeichen-block. Eine neuerliche Demonstration für das hier und überall sein in einer Kapsel. Eine letzte Grenze lotet Hollein aus: eine gleichsam olfaktorische Kapsel, ein Raumspray, mit Peter Noever entwickelt, ist für ihn der Grenzfall eines Ambientes.

Die zweite bedeutende Experimentalgruppe konstituiert sich bald nach den vorhin zitierten Hausruckern: Wolf Dieter Prix und Helmut Swiczinsky gründen die Gruppe Coop-Himmelblau. Und auch sie können am Phänomen der pneumatischen Kapsel nicht vorbeigehen. Die "Villa Rosa" (1968) ist die kritische Ironisierung eine Villa: sie besteht aus einem klinisch anmutendem Gestänge, das mit großen Ballons ausgestattet ist und den Benützer des Ambientes mit zunehmender Bedrängnis attackiert. So wird die psychologische Fragestellung von Enge und Weite, von Ruhe und Erlebnis zu einem zentralen Thema dieser Kapseln.

Die "Wolke Himmelblau" wird in verschiedenen Fassungen gezeichnet, rudimentär auch realisiert. Immer wieder steht für die Himmelblau das Thema der Kommunikation im Vordergrund. Die "ruhige Kugel" (1971) ist eine sehr deutliche Kapselsituation: drei (nackte) Menschen sind nun tatsächlich in einer Kugel, dem großen Idealraum der Architektur, eingeschlossen und spazieren durch die Stadt.

Für eine Althaussanierung stellen sich die Himmelblau eine große Kapsel als "Frischzelle" (1973) vor, die man am Dach als Grün- und Erholungsbereich montieren kann. Realisiert wurde diese Form, freilich nicht die Idee, für einen Ausstellungspavillon 1975.

Günther Domenig und Eilfried Huth haben bei ihrem Wohnprojekt für Ragnitz bei Graz (1963-69) das Einsteck-System von Naßzellen-Kapseln, den "Hygiobilen" durchgespielt und durchgerechnet, aber eine Realisierung war ökonomisch unmöglich.

Soweit zur Situation in Österreich.

 

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MONITOR - KAPSEL

 

Nun zur unmittelbaren Gegenwart. Das Thema "Kapsel" wird aus zwei Motivationen heraus interessant.

Den Besuchern der Architekturbiennale Venedig 2000 überrascht es natürlich nicht, daß Modell und Plan weitgehend durch den Monitor, durch den Bildschirm ersetzt wurden. Dessen Informationen sind nicht immer leicht zu entschlüsseln, aber ein Typus taucht immer wieder auf: es ist die faszinierende und hektische Rotation von Körpern, oft mit skulpturalem Charakter, die wir als Kapseln bezeichnen könnten. Keinesfalls ist es gedacht, daß diese Architekturen tatsächlich frei im Raum rotieren, aber die Computer-Animation zwingt uns zur Statik der Betrachtung, läßt aber das Bauwerk, die Kapsel, den Körper vor unseren Augen eine unerhörte Akrobatik vollführen. Angesichts dieser Hypertrophie der Technik überrascht dann ein Ausspruch vom jüngsten Guru der "fluid, floating Architecture" Greg Lynn, wenn er groß am USA-Pavillon die Parole eines "Embryological Housing" affichiert.

 

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VIRTUAL REALITY

 

Vielleicht zwingen uns die computergenerierten Formationen von Greg Lynn und Hani Rashid dazu, daß wir uns von den jahrtausendalten Vorstellungen von "Haus" und "Gebäude" verabschieden. Das System "Kapsel" bekommt neue Aktualität.

Tatsächlich erinnert eines der Exponate an das Prinzip "Wesen im Wesen" und fordert zum Vergleich mit einer Skulptur von Pomodoro heraus.

Die Architekturen Greg Lynn´s sind nicht als bewegliche Kapseln konzipiert, aber die Attribute des "fluid" und "floating" sind ein deutlicher Hinweis auf intendierte Bewegungsprozesse.

Diese neusten Tendenzen einer fließenden Architektur haben zweifellos eine Affinität zur Kapsel. Der Wasserpavillon in Zeeland, NL (1997) von NOX - Lars Spuybroek bewegt sich zwar selbst nicht, aber die Formen und vor allem das Wasser evozieren eine dynamische Architektur. Gehen wir nun den nächsten Schritt im System unserer Wahrnehmung.

Es ist ein technologischer Schritt, das System "Kapsel" hat sich gewandelt. Es ist nicht mehr notwendig, daß sich unser Körper in einer Kapsel einschließt, die sich bewegt, vielmehr genügt uns die virtuelle Kapsel: wir setzen uns die Brillen auf oder wir stülpen den "Helmet" über den Kopf (wie es schon Walter Pichler gemacht hat) - und legen die "Gloves" an und schon bewegen wir uns durch Raum und Zeit, rasen durch den "Cyberspace".

Die elektronisch generierten Welten, die künstlichen Wirklichkeiten - eröffnen sie uns ein völlig neues Feld der räumlichen Existenz? Wird es möglich sein, die Realität durch die "Virtual Reality" zu ersetzen - und in welchem Ausmaß?

Die nächste Generation wird diese Frage beantworten.

 

Prof. Dr. Günther Feuerstein  - Wien, im Juni 2000